Urteile vom 6. August 2019 – X ZR 128/18 und X ZR 165/18
Sachverhalt:
Die Kläger des Verfahrens X ZR 128/18 buchten bei der beklagten Reiseveranstalterin für die Zeit vom 17. Juli bis 7. August 2016 eine Urlaubsreise, die Flüge von Frankfurt am Main nach Las Vegas und zurück sowie verschiedene Hotelaufenthalte umfasste. Den Klägern wurde die Beförderung auf dem für sie gebuchten Hinflug verweigert. Sie flogen daher am folgenden Tag über Vancouver nach Las Vegas, wo sie mehr als 30 Stunden später als geplant eintrafen, und verlangen nunmehr von der Beklagten die Erstattung der für die beiden ersten Tage der Urlaubsreise angefallenen Kosten des Mietwagens und des gebuchten, aber nicht genutzten Hotelzimmers sowie der Kosten für eine wegen der geänderten Reiseplanung erforderlich gewordene Übernachtung in einem anderen Hotel.
Der Kläger des Verfahrens X ZR 165/18 und seine beiden Mitreisenden buchten bei dem beklagten Luftverkehrsunternehmen für den 15. September 2016 einen Flug von Frankfurt am Main nach Windhoek, wo sie eine Rundreise durch Namibia antreten wollten. Der Abflug verzögerte sich, so dass die Fluggäste ihr Reiseziel einen Tag später als vorgesehen erreichten. Der Kläger macht geltend, er und seine Mitreisenden hätten die für die erste Nacht gebuchte Unterkunft in einer Lodge wegen der verspäteten Ankunft nicht mehr erreichen können und stattdessen in einem Hotel in Windhoek übernachten müssen. Er verlangt von dem beklagten Luftverkehrsunternehmen aus eigenem und abgetretenem Recht seiner Mitreisenden Erstattung der Kosten für die nicht in Anspruch genommene, aber nach seinem Vortrag in Rechnung gestellte Unterkunft in der Lodge sowie der Kosten für die Übernachtung in Windhoek.
Wegen der Beförderungsverweigerung bzw. der Flugverspätung leisteten die ausführenden Luftverkehrsunternehmen der betreffenden Flüge Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c Fluggastrechteverordnung in Höhe von 600 Euro je Reisendem. In beiden Fällen streiten die Parteien darüber, ob diese Zahlungen nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung auf die in der Höhe dahinter zurückbleibenden Ersatzansprüche angerechnet werden dürfen, die die Kläger auf der Grundlage der Vorschriften des deutschen Reisevertrags- bzw. Personenbeförderungsrechts geltend machen.
Bisheriger Prozessverlauf:
Das Amtsgericht hat die Ausgleichszahlungen angerechnet und die Klagen abgewiesen. Die hiergegen gerichteten Berufungen der Kläger hatten keinen Erfolg. Der Fluggast könne bei einer Beförderungsverweigerung oder einer erheblichen Flugverspätung wählen zwischen der Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung, die zum Ausgleich entstandener Unannehmlichkeiten einen pauschalierten Ersatz für materielle und immaterielle Schäden biete, und der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nach nationalem Recht, für die Schadenseintritt und –höhe konkret darzulegen seien. Beanspruche der Fluggast eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung, sei diese nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung auf wegen desselben Ereignisses geltend gemachte Schadensersatzansprüche nach nationalem Recht anzurechnen, unabhängig davon, ob diese auf den Ersatz materieller oder immaterieller Schäden gerichtet seien.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der für das Reise- und Personenbeförderungsrecht zuständige X. Zivilsenat hat die Entscheidungen der Berufungsgerichte bestätigt und die Revisionen der Kläger zurückgewiesen.
Die von den Klägern geltend gemachten Ersatzansprüche dienen der Kompensation von durch Nicht- oder Schlechterfüllung der Verpflichtung zur Luftbeförderung hervorgerufenen Beeinträchtigungen, die zum einen in durch die verspätete Ankunft am Reiseziel nutzlos gewordenen Aufwendungen, zum anderen in Zusatzkosten für eine notwendig gewordene andere Hotelunterkunft bestehen. Dementsprechend handelt es sich bei den eingeklagten Ansprüchen um Ansprüche auf weitergehenden Schadensersatz, auf die nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastrechteVO eine nach dieser Verordnung wegen Beförderungsverweigerung oder großer Verspätung gewährte Ausgleichszahlung angerechnet werden kann.
Ob die nach nationalem Recht begründeten Schadensersatzansprüche dementsprechend um die Ausgleichszahlung gekürzt werden können oder – weil die Ausgleichszahlung wie in den Streitfällen höher ist – vollständig entfallen, richtet sich mangels gesetzlicher Regelung im deutschen Recht nach den von der Rechtsprechung zum Schadenersatzrecht entwickelten Grundsätzen der Vorteilsausgleichung. § 651p Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB, der ausdrücklich bestimmt, dass sich ein Reisender auf seine Schadensersatzansprüche gegenüber dem Reiseveranstalter denjenigen Betrag anrechnen lassen muss, den er aufgrund desselben Ereignisses als Entschädigung nach Maßgabe der Fluggastrechteverordnung erhalten hat, gilt erst für ab dem 1. Juli 2018 geschlossene Reiseverträge und ist in den Streitfällen nicht anwendbar.
Nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung sind dem Geschädigten diejenigen Vorteile zuzurechnen, die ihm in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zugeflossen sind und deren Anrechnung mit dem Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt. Die Ausgleichszahlung nach der Flugastrechteverordnung dient nicht nur dem pauschalierten Ersatz immaterieller Schäden, sondern soll es dem Fluggast ermöglichen, auch Ersatz seiner materiellen Schäden zu erlangen, ohne im Einzelnen aufwändig deren Höhe darlegen und beweisen zu müssen. Da die reiserechtlichen Ersatzansprüche im Verfahren X ZR 128/18 und die auf Verletzung des Beförderungsvertrags gestützten Ansprüche im Verfahren X ZR 165/18 dem Ausgleich derselben den Klägern durch die verspätete Luftbeförderung entstandenen Schäden wie die bereits erbrachten Ausgleichszahlungen dienen, ist eine Anrechnung geboten.
Der Bundesgerichtshof hat in einem früheren Verfahren für klärungsbedürftig gehalten, ob eine solche Anrechnung dem Zweck der Ausgleichsleistung nach der Fluggastrechteverordnung entspricht und deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union eine entsprechende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (Beschluss vom 30. Juli 2013 – X ZR 111/12); das Verfahren hat sich jedoch anderweitig erledigt.
Eine erneute Vorlage hat der Bundesgerichtshof als nicht erforderlich angesehen, da durch Erwägungsgrund 36 und Art. 14 Abs. 5 der am 31. Dezember 2015 in Kraft getretenen neuen Pauschalreiserichtlinie (Richtlinie (EU) 2015/2302) geklärt worden ist, dass jedenfalls seit Inkrafttreten dieser Richtlinie Ausgleichszahlungen nach der Fluggastrechteverordnung auf vertragliche Ersatzansprüche gegen den Reiseveranstalter anzurechnen sind und umgekehrt (was für das geltende deutsche Pauschalreiserecht durch die erwähnte Vorschrift des § 651p Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB umgesetzt worden ist). Damit entfällt jedoch auch für Ansprüche aus dem Beförderungsvertrag und für Ansprüche nach dem bis zum 30. Juni 2018 geltenden Reiserecht, wie sie in den Streitfällen in Rede stehen, ein aus dem Sinn und Zweck der Ausgleichsleistung nach der Fluggastrechteverordnung abzuleitendes Hindernis für eine Anrechnung, wie es der Bundesgerichtshof vor Inkrafttreten der Pauschalreiserichtlinie für denkbar gehalten hat.
Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Fluggastrechteverordnung
Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
[…]
c) 600 € bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.
Art. 12 Abs. 1 Fluggastrechteverordnung
Diese Verordnung gilt unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.
Erwägungsgrund 36 Pauschalreiserichtlinie
Die Rechte der Reisenden auf Geltendmachung von Ansprüchen auf der Grundlage dieser Richtlinie und anderer einschlägiger Unionsvorschriften oder internationaler Übereinkünfte sollten von dieser Richtlinie unberührt bleiben, sodass die Reisenden weiterhin die Möglichkeit haben, Ansprüche gegen den Veranstalter, das Beförderungsunternehmen oder gegen eine oder gegebenenfalls mehr als eine andere haftende Partei geltend zu machen. Es sollte klargestellt werden, dass die nach dieser Richtlinie gewährte Schadenersatzzahlung oder Preisminderung von der nach Maßgabe anderer einschlägiger Unionsvorschriften oder internationaler Übereinkünfte gewährten Schadenersatzzahlung oder Preisminderung abgezogen werden sollte und umgekehrt, um eine Überkompensation zu vermeiden. Die Haftung des Reiseveranstalters sollte Regressansprüche gegen Dritte einschließlich Leistungserbringer unberührt lassen.
Art. 14 Abs. 5 Pauschalreiserichtlinie
Das Recht auf Schadenersatz oder Preisminderung nach Maßgabe dieser Richtlinie lässt die Rechte von Reisenden nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004, der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007, der Verordnung (EG) Nr. 392/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 und der Verordnung (EU) Nr. 181/2011 und nach Maßgabe internationaler Übereinkünfte unberührt. Die Reisenden sind berechtigt, Forderungen nach dieser Richtlinie und den genannten Verordnungen und nach internationalen Übereinkünften geltend zu machen. Die nach dieser Richtlinie gewährte Schadenersatzzahlung oder Preisminderung wird von der nach Maßgabe der genannten Verordnungen und nach internationalen Übereinkünften gewährten Schadenersatzzahlung oder Preisminderung abgezogen und umgekehrt, um eine Überkompensation zu verhindern.
§ 651p Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB
Hat der Reisende gegen den Reiseveranstalter Anspruch auf Schadensersatz oder auf Erstattung eines infolge einer Minderung zu viel gezahlten Betrages, so muss sich der Reisende den Betrag anrechnen lassen, den er aufgrund desselben Ereignisses als Entschädigung oder als Erstattung infolge einer Minderung nach Maßgabe internationaler Übereinkünfte oder von auf solchen beruhenden gesetzlichen Vorschriften erhalten hat oder nach Maßgabe
der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46 vom 17.2.2004, S. 1), […].
Vorinstanzen:
AG Frankfurt am Main – Urteil vom 22. September 2017 – 32 C 3620/16 (22)
LG Frankfurt am Main – Urteil vom 24. Mai 2018 – 2–24 S 271/17
und
AG Frankfurt am Main – Urteil vom 10. November 2017 – 32 C 1397/17 (18)
LG Frankfurt am Main – Urteil vom 26. September 2018 – 2–24 S 338/17
Quelle: Pressemitteilungen des Bundesgerichthofes vom 06.08.2019 - Nr. 105/2019